Kälte & Dunkelheit. – So stellt man sich den Winter in Finnland vor. Doch dem (aus meiner Sicht) bedeutendsten Faktor wird oft keine Beachtung geschenkt: Stille. Es ist unfassbar still.
Ich bin Janosch, 20, aus Feldkirch, seit neun Monaten irgendwo in Finnland auf einem ESK-Freiwilligeneinsatz. Und falls es dich interessiert, erzähle ich hier ein wenig von meinen Erfahrungen aus dem finnischen Winter.
Stille. Neben dem stürmischen Wind war dies das Erste, was ich bewusst vernahm, gleich nachdem ich aus der Finnair-Maschine in Helsinki-Vantaa ausgestiegen war. Mein Einsatzort ist Kokkola, meine Anreise ging also nach dem Flug noch für weitere fünf Stunden Zugfahrt weiter. Ich hatte mir mein viel zu teures Croissant vom Zürcher Flughafen für die Zugfahrt aufbewahrt. In meinem Abteil saßen vielleicht 20 Personen. Und es war einfach komplett still. So still, dass ich mich schlecht fühlte, das Croissant aus dem Papiersäckle zu holen.
In Kokkola angekommen, wurde ich von meiner Mentorin vom Bahnhof abgeholt. Das Jugendzentrum, in dem ich arbeite, liegt traumhaft schön in der Bucht von Kokkola, direkt am Meer, umgeben von Wald und Natur. Es war spät abends, als ich das traditionelle, rote Holzhaus direkt am Strand zum ersten Mal betrat. Dieses Haus würde ich für die nächsten elf Monate mein Zuhause nennen. Nach einer kurzen Einführung in den sehr großzügigen Wohnbereich verabschiedete sich meine Mentorin auch schon wieder und ich war auf mich alleine gestellt. Und es wurde wieder sehr still.
Meine Ankunft war im Spätsommer, unmittelbar vor es anfing herbstlich zu werden. Ich erlebte mit, wie der Sonnenuntergang sich von anfangs 21 Uhr in großen Schritten immer weiter nach vorne bewegte. Es waren traumhaft schöne Tage, inmitten von knallgelb gefärbten Birkenbäumen und eingefasst von feuerroten Sonnenunter- und -aufgängen. Im Jugendzentrum hatten wir ständig neue Gruppen mit vielen verschiedenen Aktivitäten. An den Wochenenden kann ich das Equipment hier nutzen, somit verbrachte ich viel Zeit auf dem Mountainbike, dem Standup-Paddelboard oder im Kanu. Mit der zweiten Freiwilligen im Zentrum, Varvara aus Sibirien, unternahm ich den einen oder anderen Ausflug. Unter anderem sind wir bis nach Kuusamo, nahe der russischen Grenze gefahren zum Wandern – leider hat unser Auto den Ausflug nicht überlebt…
Die bunte Jahreszeit dauert in Finnland nur wenige Wochen. Darauf folgen einige Wochen Regen und, unserer Lage am Meer geschuldet, orkanartiger Wind. Doch dann, an einem Tag Anfang Dezember war es soweit: Der Boden war gefroren. Somit blieb der nächste Schnee liegen und die Transformation in ein bilderbuchhaftes Winterwonderland hatte begonnen.
In der Vorweihnachtszeit, welche in Finnland Mitte November beginnt, fand zudem noch ein ESK-Teamprojekt hier im Jugendzentrum statt, bei dem sich 20 Freiwillige aus ganz Europa als traditionelle finnische Weihnachtselfen verkleideten. Dies rundete nicht nur meine finnische Bilderbuchweihnachten-Experience ab, sondern war zudem ein wirklich unvergessliches Erlebnis, bei dem viele wunderschöne Erinnerungen und gute Freundschaften entstanden sind.
Das Leben steht Kopf im Winter. Er bringt außerdem zahlreiche Feinheiten mit sich, wie z. B. Mittagessen bei Sonnenaufgang, Langlaufen auf dem gefrorenen Meer, Sauna mit anschließendem Schneewälzen oder eine Wanderung über die Ostsee zur nächsten Insel. Es hat einfach etwas Magisches und wird auch nie langweilig, wenn man aus dem Fenster schaut und den Wattebausch-großen Schneeflocken zuschaut. Eine nochmals ganz andere Dimension nimmt dies natürlich an je weiter man in den Norden kommt. Mit zwei anderen Freiwilligen aus der Nachbarstadt Ylivieska haben wir uns dazu entschieden, Weihnachten hier in Finnland zu verbringen. Wir haben uns über die Weihnachtstage auf den Weg in die Heimat des Weihnachtsmanns gemacht. Somit haben wir eine unfassbar schöne Woche in Nord-Lappland verbracht, in einem gemütlichen Mökki fernab jeglicher Zivilisation, umzingelt von in Zuckerwatte eingepackten Bäumen. Weit jenseits des Polarkreises geht die Sonne in dieser Jahreszeit nicht auf, somit ist es zwischen 12 und 11 Uhr dunkel. Wir verbrachten viel Zeit vor dem Holzfeuerofen und natürlich in der Sauna. An Heiligabend waren die Nordlichter besonders gut zu sehen, der ganze Himmel war von den tanzenden fahlgrünen Leuchtstreifen durchzogen. Wir legten uns flach auf die verschneite Landstraße und verbrachten eine halbe Stunde bei -20°C beim Bewundern dieses Schauspiels. Wie man sich vorstellen kann, war es dort erst recht still.
Keine zwei Wochen später trafen wir uns wieder im Wald neben Ylivieska, um Silvester in einem malerischen Holzhäuschen am See zu verbringen. Selbstverständlich, wie es sich für Finnland gehört, gab es eine Holzfeuersauna und eine Eisbadestelle. Somit kann ich sagen, dass das Erste was ich in 2022 gemacht habe, Eisbaden war. Fernab jeglicher Licht- und Lärmquelle war dies das friedvollste und gemütlichste Silvester, das ich je erlebt habe.
So schön und gemütlich diese Wochen auch waren, der Winter war noch lange nicht zu Ende und es wurde ein bisschen sehr friedvoll. Über die kälteste Jahreszeit steht die Zeit in Finnland still. Im Jugendzentrum waren wochenlang keine Gruppen, das Städtchen schien komplett ausgestorben zu sein. Und obwohl meine Stimmung allgemein gut blieb, zogen sich die Monate von Januar bis März sehr in die Länge. Ich lernte, wie wichtig mir soziale Kontakte sind; somit nahm ich die 80 km nach Ylivieska fast jedes Wochenende gerne in Kauf, nur um etwas mit Freunden zu unternehmen. Da war sie dann doch ein bisschen zu viel, die Stille.
Inzwischen ist es Ende Mai. Ich sitze auf der Terrasse von meinem traumhaft gelegenen Häuschen direkt am Meer und es ist taghell, obwohl es bereits nach 22 Uhr ist. Das Leben hier ist wieder in vollem Gange, es wird nebenan gerade geheiratet. Der Wald ist aus seinem Winterschlaf erwacht, überall blüht und gedeiht es, alles singt und sirrt. Es bleibt die Erkenntnis, dass Finnland ein Land der Kontraste ist. Die Sommer sind warm, hell und voller Leben – die Winter klirrend kalt, lang und hart. Aber eben auch atemberaubend schön, friedlich und still.
