Ausland

„Das Thema könnte nicht aktueller sein.“

Im Interview erzählt Severin aus Dornbirn über seinen Gedenkdienst im KZ Majdanek in Lublin/Polen.

Was hat dich dazu bewogen, dich für einen Gedenkdienst im Ausland und nicht für den klassischen Zivildienst in Österreich zu entscheiden?
Ich habe mich eigentlich immer schon sehr für Geschichte interessiert, insbesondere für den Holocaust. Als ich vor einiger Zeit das erste Mal vom Gedenkdienst hörte, war ich sofort davon begeistert. Die Chance, für ein Jahr in einem fremden Land zu leben und sich dort mit einem so wichtigen Thema zu beschäftigen, bekommt man sicher nicht oft im Leben. Dementsprechend war die Freude groß, als ich für die Stelle genommen wurde.

Wie lange bist du schon in Polen?
Vor rund zwei Monaten bin ich hier in Lublin angekommen, neben dicken Wollpullis war auch eine große Portion Unsicherheit mit im Gepäck. Davon ist stand heute nicht mehr viel übrig. Es ist so viel passiert, ich durfte so viele neue Menschen unterschiedlichster Herkunft kennenlernen und schon so viele neue Orte besuchen. Obwohl die Zeit wirklich verflogen ist, fühlt sie sich an wie eine Ewigkeit.

Wie erlebst du die Arbeit an einem so geschichtsträchtigen Ort wie dem KZ Majdanek?
Trotz des Umstands, dass ich mich mit Geschehnissen beschäftige, die mittlerweile mehr als 80 Jahre in der Vergangenheit liegen, könnte das Thema nicht aktueller sein. In Majdanek treffen die Schrecken der Vergangenheit auf die Zukunft in Gestallt junger Menschen, deren Verantwortung es einmal sein wird, für unsere Werte wie Menschenrechte und Toleranz einzustehen. Ich bin dankbar, dass ich dazu beitragen darf.

Welche Aufgaben übernimmst du im Rahmen deines Gedenkdienstes?
Zusammen mit meiner wunderbaren Mitarbeiterin Paula ist es unsere Hauptaufgabe, Führungen für deutsch- und englischsprachige Gruppen zu geben und ihnen das Thema Holocaust und Nationalsozialismus in Workshops näherzubringen. Außerdem unterstützen wir das Museum bei Übersetzungen vom Deutschen ins Englische. Zudem betreuen wir einmal die Woche eine Gruppe polnischer Überlebende, die uns schon sehr ans Herz gewachsen sind.

Gibt es eine Aufgabe, die dir besonders am Herzen liegt?
Ich halte die Wissensvermittlung an Jugendliche für essenziell und sehe sie als große Verantwortung. In Zeiten politischer Turbulenzen ist es wichtiger den je, sich mit den Fehlern der Vergangenheit zu beschäftigen, um aus ihnen zu lernen. Gerade wir jüngeren Menschen, die nichts anderes kennen, dürfen unsere demokratische Grundordnung nie für selbstverständlich nehmen. Die Konsequenzen wären zu groß.

Wie gehst du mit den emotionalen Herausforderungen um, die deine Arbeit in einem ehemaligen Konzentrationslager mit sich bringt?
Es hilft, darüber zu reden. Ich bin sehr dankbar, dass ich viele Menschen in meinem Umfeld habe, mit denen ich meine Gedanken teilen kann. Außerdem versuchte ich, mich in meiner Freizeit nicht mit diesen Themen zu beschäftigen – wenig erfolgreich bis jetzt.

Du begleitest Gruppen aus dem deutschsprachigen Raum. Welche Reaktionen oder Fragen der Besucher bewegen dich besonders?
Die Reaktionen und gezeigten Emotionen sind höchst unterschiedlich. Für viele sind die großen Opferzahlen, mit denen man bei diesem Thema konfrontiert wird, zwar eindrücklich aber einfach schlecht greifbar. Viele können sich besser in Einzelschicksale einfühlen. In Geschichten von Menschen wie du und ich, getötet und verscharrt wegen ihrer bloßen Existenz. Sie sind unmissverständlich. Diese Geschichten werden auch nie aufhören, mich zu berühren.

Inwieweit haben deine bisherigen Erfahrungen deinen Blick auf die Geschichte verändert?
Inhaltlich ist mein Blick auf die Vergangenheit arbeitsbedingt natürlich schärfer geworden. Außerdem wird einem klar, wie sehr sich diese Verbrechen hinter Zahlen verstecken. Jeder Häftling war nur noch eine Zahl, welche wiederum nur eine Zahl von vielen in einer Statistik war. Was es wirklich heißt, Millionen von Menschen zu ermorden, geben diese Zahlen nicht wieder. Sie füllen nicht die Leere, die sie hier mancherorts hinterlassen.

Gibt es ein spezielles Erlebnis oder eine Geschichte, die dich während deiner Zeit in Lublin besonders berührt hat?
Majdanek liegt heute flankiert von einer Wohnsiedlung und einem großen Friedhof. Auf Bestreben der Anwohner gibt es einen kleinen Eingang, der es erlaubt, das Gelände des ehemaligen KZ zu queren, ohne außen herum gehen zu müssen. Während einer Führung beobachtete ich einen jungen Mann, der sich lässig auf sein Rad schwang mit einer Zeitung unterm Arm und anschließend gemütlich durch den ehemaligen SS-Sektor radelte – vorbei an den Gaskammern, den SS-Baracken und dem ewigen Stacheldraht. Was sich für mich höchst sonderbar anfühlte, schien für ihn Normalität zu sein – es war vermutlich nicht seine erste Querung des Geländes. Dies verdeutlichte mir, wie eng Leben und Tod hier beieinander sind.

Wie sieht dein typischer Arbeitsalltag in der Gedenkstätte aus und welche Aufgaben findest du besonders spannend oder herausfordernd?
Jeden Morgen fahre ich, zusammen mit meiner Mitarbeiterin Paula, mit dem Bus zur Gedenkstätte. Wir haben ein eigenes kleines Büro, in dem wir allfällig diversesten Aufgaben nachgehen. Wenn gerade keine Führung oder Workshop ansteht, besuchen wir manchmal das Archiv. Zu Mittag setzen wir uns in die kleine Cafeteria und genießen unser Mittagessen, mit Aussicht auf die trügerisch friedlichen, grünen Wiesen Majdaneks. Danach wird weitergearbeitet.

Besonders freue ich mich jeden Mittwoch auf das Überlebendentreffen, welchem wir beiwohnen dürfen. Bei Café und Kuchen reden wir sowohl über historische Themen als auch über andere Dinge, die gerade von Interesse sind. Es ist für uns eine sehr bereichernde Erfahrung, mit solchen Personen in Kontakt treten zu dürfen und wir sind sehr dankbar, dass sie uns mit solch offenen Armen begegnen.

Wie könnte diese Erfahrung deine Zukunft prägen?
Ich glaube, dass ich hier viel lernen kann. Zum Beispiel wie man pädagogisch sinnvoll mit Menschen arbeiten kann, wie man sich kritisch mit komplexen Themen beschäftigt und wie man sich von neuem ein soziales Umfeld aufbaut. Für ein späteres Studium sind solche Erfahrungen sicher sehr hilfreich.

Außerdem kann man hier sehr gut nachvollziehen, was passieren kann, wenn man sich nicht genug gegen Hetze und Hass stellt. Es ist also auch ein Ansporn fürs Leben, für die eigenen Werte einzustehen.

Würdest du den Gedenkdienst anderen jungen Menschen empfehlen, und wenn ja, warum?
Unbedingt! Der Gedenkdienst ist eine ganz hervorragende Sache. Man verlässt seinen eigenen Tellerrand und wird mit großartigen Erfahrungen und einer bereichernden Arbeit belohnt.
Ich möchte zudem hervorheben, dass der Gedenkdienst nicht nur für Zivildiener eine tolle Option ist. Es können sich Personen unabhängig von Geschlecht, Alter und Hintergrund dafür bewerben, was auch gern gesehen ist.

Ob nun als Zivildienst, als Gap Year oder sonst irgendwann, der Gedenkdienst ist immer eine bereichernde und besondere Erfahrung.

Welche Ziele hast du nach dem Gedenkdienst?
Ich werde vermutlich ein Studium der Geschichte und Politikwissenschaften anstreben. Wann und wo steht dabei noch in den Sternen.

Über die Organisation
Ich möchte hier noch kurz auf meine Trägerorganisation eingehen. Der Verein GEDENKDIENST ist eine politisch unabhängige, überkonfessionelle Organisation, die sich mit den Ursachen und Folgen des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen auseinandersetzt. Seit mehr als zwei Jahrzenten entsendet der Verein Freiwillige in die unterschiedlichsten Länder, in denen das NS-Regime Verbrechen begangen hat oder in denen heute Verfolgte oder Überlebende leben. Ich hatte das große Vergnügen, den Verein und ihre Mitglieder bei den Vorbereitungsseminaren besser kennenzulernen und kann sie nur wärmstens empfehlen.

Wer will, kann sich auf folgender Website informieren: www.gedenkdienst.at

Fotocredits
Sebastian Schröder-Esch vom Maximilian-Kolbe-Werk