Julian Jenny berichtet im Interview über seinen Auslandszivildienst bei der Azrieli Foundation in Kanada.
Wie blickst du heute auf deinen Gedenkdienst zurück?
Wenn ich auf meinen Gedenkdienst in Kanada zurückblicke, empfinde ich eine Mischung aus Dankbarkeit und Stolz. Es war eine sehr intensive und außergewöhnliche Zeit. Ich erinnere mich noch gut an meine ersten Tage, ich war voller Neugier und war natürlich auch ein bisschen unsicher, was auf mich zukommen wird – ich war ja schließlich der erste Gedenkdiener an meiner Einsatzstelle (mittlerweile ist der dritte Gedenkdiener dort). Diese Unsicherheit legte sich aber mit der Zeit, das liegt einerseits daran, dass ich sehr unterstützende Kolleg*innen hatte, andererseits lebt man sich ein und fühlt sich dort wie zu Hause.
Was mich besonders beeindruckt hat, ist die Bedeutung der Arbeit, die ich leisten durfte: Es war mehr als nur ein Job – es ging darum, Erinnerungen zu bewahren, Menschen und ihre Geschichten zu ehren und diese für zukünftige Generationen zugänglich zu machen. Wenn ich jetzt zurückschaue, bin ich bewegt von all den Begegnungen, den Projekten und den vielen kleinen, aber bedeutungsvollen Momenten, die ich erleben durfte. Die zehn Monate vergingen wie im Flug, aber sie haben bleibende Spuren hinterlassen. Der Gedenkdienst ist eine Erfahrung, die ich nicht missen möchte. Ich habe in so vielen Bereichen dazugelernt, und diese Eindrücke begleiten mich noch heute.
Inwiefern hat er deine Sichtweise auf Geschichte, Toleranz und internationale Zusammenarbeit verändert?
Der Gedenkdienst hat meine Sichtweise auf Geschichte und Toleranz grundlegend verändert. Ich wusste natürlich schon vorher, wie wichtig es ist, aus der Geschichte zu lernen, aber der direkte Kontakt mit den Holocaustüberlebenden hat mir die Dringlichkeit und Tiefe dieser Lektionen noch deutlicher vor Augen geführt. Die Menschen, die unvorstellbares Leid erlebt haben, standen mir gegenüber und erzählten ihre Geschichten – nicht nur als historische Fakten, sondern als persönliche Erfahrungen, als Lebens- und vor allem Überlebensgeschichten. Diese Überlebensgeschichten zu hören, war zutiefst bewegend. Ihr Zeugnis und ihre persönlichen Erfahrungen sind ein unersetzlicher Schatz, der es uns ermöglicht, die Schrecken der Vergangenheit besser zu verstehen und die Verantwortung für eine bessere Zukunft zu erkennen.
Kanada als multikulturelles Land hat eine Geschichte der Offenheit gegenüber Menschen aus der ganzen Welt. Diese Vielfalt hat nicht nur das Sozialsystem gestärkt, sondern auch die Wirtschaft gefördert. Während meines Aufenthaltes habe ich gesehen, wie entscheidend es ist, über nationale Grenzen hinweg zusammenzuarbeiten – besonders in Fragen der Erinnerungskultur. Diese Zusammenarbeit ermöglicht es, die Lektionen aus der Geschichte global zu verankern und gemeinsam eine bessere Zukunft zu gestalten.
Welche prägende Erfahrung hast du gemacht, die du auch nach deiner Rückkehr weiterträgst?
Eine der prägendsten Erfahrungen war die Arbeit mit Holocaustüberlebenden. Diese Menschen haben das Unvorstellbare durchlebt und es ist schwer in Worte zu fassen, wie inspirierend es war, ihre Geschichten zu hören. Besonders in Erinnerung bleibt mir eine Begegnung mit Pinchas Gutter, einem Überlebenden des Aufstands im Warschauer Ghetto und des Todesmarschs nach Theresienstadt. Er erzählte seine Geschichte mit einer solchen Klarheit und Stärke, dass es mich tief berührte. Solche Erlebnisse lassen einen die eigene Realität anders wahrnehmen – ich habe gemerkt, wie wichtig es ist, sich immer wieder an diese Kapitel der Geschichte zu erinnern und daraus zu lernen.
Diese Erfahrung hat mich gelehrt, wie bedeutend es ist, dass wir als junge Generation die Verantwortung übernehmen, die Vergangenheit lebendig zu halten. Was ich nach meiner Rückkehr aus Kanada mitgenommen habe, ist dieses Gefühl von Verantwortung und das Bewusstsein, dass meine Arbeit weit über den Gedenkdienst hinausgeht. In einer Ära, die von kontinuierlichem Wandel und vielfältigen Herausforderungen geprägt ist, kommt uns die Aufgabe zu, Brücken des Verständnisses zwischen der jungen Generation Österreichs und den jüdischen Gemeinschaften zu errichten. Die Bedeutung unseres Handelns gewinnt zunehmend an immenser Dringlichkeit, da die Zahl der Holocaust-Überlebenden bedauerlicherweise stetig abnimmt.
Wie hat sich der Gedenkdienst auf deine persönliche Entwicklung und deine weiteren Pläne ausgewirkt?
Vor meinem Gedenkdienst hatte ich nur eine vage Vorstellung davon, was ich beruflich machen möchte. Die zehn Monate waren eine wertvolle Zeit zur Selbstreflexion. Direkt aus der Schule kommend, war es ungewohnt, plötzlich so viel Freizeit zu haben – keine Tests, keine Schularbeiten, sondern Zeit für sich selbst. Diese Zeit habe ich genutzt, um mich besser kennenzulernen und meine Interessen zu hinterfragen. Gleichzeitig hatte ich die Möglichkeit, meine Umgebung in Kanada zu erkunden und die Vielfalt des Landes kennenzulernen.
Wie empfandest du die Unterschiede zwischen der kanadischen und österreichischen Arbeits- und Lebenskultur? Würdest du nochmals nach Kanada gehen?
Auch wenn Kanada in vielen Bereichen (Sozialversicherung, Gesundheitssystem, Anzahl der Urlaubstage, Work-Life-Balance) besser gestellt ist als die USA, war es für mich als Europäer dennoch eine Umstellung. Meine Einsatzstelle achtete sehr auf das Wohlbefinden der Mitarbeitenden – es gab mehr Urlaubstage als gesetzlich vorgesehen, eine gute Work-Life-Balance, Home-Office-Möglichkeiten und eine private Krankenversicherung. Doch in den Großstädten Kanadas sieht die Realität oft anders aus. Viele Menschen arbeiten in mehreren Jobs, um über die Runden zu kommen, und der Lebensstandard ist für einige schwer zu halten.
Dennoch haben mich die Freundlichkeit und Offenheit der Kanadier beeindruckt. Sie sind unglaublich höflich und bemüht, selbst in stressigen Situationen. Die kulturelle Vielfalt in Toronto war besonders faszinierend – man spürt, wie Multikulturalität in den Alltag integriert ist und wie positiv sie sich auf das Zusammenleben auswirkt. Natürlich habe ich auch Österreich in manchen Momenten vermisst, besonders bei den öffentlichen Verkehrsmitteln und der Effizienz gewisser Abläufe.
Würde ich noch einmal nach Kanada gehen? Als Tourist auf jeden Fall. Dauerhaft? Never say never. Derzeit fühle ich mich in Österreich sehr wohl, aber wenn sich die Gelegenheit ergibt, könnte ich mir gut vorstellen, wieder nach Kanada zu gehen und dort weitere spannende Erfahrungen zu sammeln.
Zur Azrieli Foundation
Die Azrieli Foundation wurde 1989 vom jüdischen Holocaust-Überlebenden David J. Azrieli gegründet, um philanthropische Zwecke in Kanada und Israel zu fördern. Als größte nicht-kommerzielle Stiftung in Kanada finanziert und unterstützt sie ein breites Spektrum von Organisationen in den Bereichen Bildung, Wissenschaft und Gesundheit, Musik und Kunst, Gemeinwesen sowie Architektur, Design und Technik.
Das Holocaust Survivor Memoirs Program wurde 2005 von der Azrieli Foundation ins Leben gerufen, um die von Überlebenden des Holocaust, welche nach Kanada kamen, geschriebenen Memoiren und Tagebücher zu sammeln, zu archivieren und zu veröffentlichen. Die Foundation setzt sich dafür ein, dass der Holocaust nie in Vergessenheit gerät und dass er heutigen und künftigen Generationen sachkundig vermittelt wird. Durch die Erweiterung des kollektiven Wissens über die Zerstörung jüdischen Lebens und jüdischer Gemeinschaften und die Weitergabe der Erfahrungen der Überlebenden wird ein besseres Verständnis für das Ausmaß dieses Völkermords gefördert.
Weiterführende Informationen: https://memoirs.azrielifoundation.org
Zum Verein Österreichischer Auslandsdienst
Der Verein Österreichischer Auslandsdienst ist eine vom Sozialministerium anerkannte Trägerorganisation, die Teilnehmer*innen die Möglichkeit bietet, einen finanziell geförderten Freiwilligen- bzw. Zivilersatzdienst im Ausland zu leisten.
1998 gegründet, bietet der Verein inzwischen fast 150 Einsatzstellen in über 60 Ländern auf der ganzen Welt an und erlaubt es Interessierten jeglichen Alters und Geschlechts einen Gedenk-, Sozial- oder Friedensdienst im Ausland zu leisten. In (Online-)Konferenzen, Seminaren und Studienreisen, aber auch durch Vereinsmitarbeit bereiten sich die Kandidat*innen auf ihren Dienst vor und bleiben auch während ihrer Zeit im Ausland mit dem Verein in Kontakt.
Wer an einem Auslandsdienst interessiert ist, findet hier weitere Informationen dazu: www.auslandsdienst.at/jetzt-bewerben